Spastizität ist meist die Folge einer Schädigung des zentralen Nervensystems (Hirn und Rückenmark) und kann auftreten bei Patienten/innen mit Schlaganfall, bei traumatischen und nicht-traumatischen Schädigungen aller Art des Gehirns und Rückenmarks. Es handelt sich um eine unwillkürliche muskuläre Überaktivität, die verschiedene schädliche Auswirkungen haben kann, z.B. Schmerzen, fixierte Gelenksfehlstellungen und beeinträchtigte Funktion. Das therapeutische Ziel des Einsatzes von Botulinumtoxin Typ A (BoNT-A) bei Spastizität ist die Verbesserung von Aktivität und Partizipation des Patienten/in (gemäss ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health)). Dies kann unter anderem folgende Komponenten beinhalten : Besserung der motorischen Möglichkeiten im Sinne des Geh- und Stehvermögens und des aktiven Einsatzes der Hand oder des Armes, Erleichterung des Transfers (z.B. Bett zu Rollstuhl), Minderung von Schmerzen, Erleichterung und Stabilerhaltung der Pflege (unter anderem Intimpflege bei Adduktoren-Spasmus) sowie Prophylaxe von Sekundärkomplikationen (unter anderem Ulcera bei «spastischer Hand» ; Kontrakturen ; Dekubitus).
In den letzten Jahren ist BoNT-A als Behandlungsoption bei adulten und pädiatrischen Patienten/Patientinnen mit Spastizität auf zunehmendes Interesse gestossen. In einem bereits 2003 erschienenen europäischen Konsensus-Papier wird die Behandlung als erste Wahl unter den pharmakologischen Behandlungsoptionen der fokalen Spastizität bezeichnet.1 Das Produkt Botox ist in der Schweiz u.a. seit 2000 für die Behandlung der fokalen Spastizität nach Schlaganfall bei Erwachsenen zugelassen. Für diese Indikation besteht auch eine Erstattungspflicht aus der Grundversicherung. Seit 2006 besteht für das Produkt Dysport eine Zulassung für die Behandlung der Armspastizität bei Erwachsenen infolge eines Schlaganfalls, ebenfalls mit Erstattungspflicht. Seit 2013 ergänzt das Produkt Xeomin den Anwendermarkt. Bei den Produkten bestehen heute aufgrund des unterschiedlichen Zulassungsstandes bei Spastik- und Dystoniebehandlung spezifische Anwendungschwerpunkte. Neueren Datums ist auch (seit 2013) die Zulassung von Botox bei der intravesikalen Therrapie der neurogenen Blasenüberaktivität.
In einer 2010 verfassten Behandlungsempfehlung zur Zulassungserweiterung (auf Grundlage des europäischen Konsensusstatements zur Behandlung der fokalen Spastizität1 sowie der Leitlinien des Arbeitskreises Botulinumtoxin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2 und vor dem Hintergrund ihrer umfassenden klinischen Erfahrung in der Anwendung von BoNT-A) erachten Mitglieder einer «Schweizer Arbeitsgruppe für fokale Spastizität» diese Therapie als effektiv und nebenwirkungsarm. Eine Anwendung von BoNT-A in der fokalen Behandlung der Spastizität, ungeachtet einer zugrunde liegenden Erkrankung ist wissenschaftlich adäquat begründet und hat zunehmend auch bei sogenannten noch «off-label» Indikationen bei gegebenem Evidenzstand zum heute bewilligten Einsatz bei entsprechender Begründung geführt (Art. 71 a/b KVV) sodass auch hier zunehmend Kriterien für einen kostenerstattungsfähigen Einsatz gegeben sind.
BoNT-A bildet eine sehr effiziente Option bei der Behandlung der Spastizität und hat eine innovative Rolle, wenn die Behandlungsziele fokal sind. Es gibt mittlerweile beträchtliche und breit dokumentierte Erfahrung hinsichtlich der klinischen Anwendung, der Indikationen, der Wirkung und der Sicherheit.
BoNT-A wird über selektive Akzeptoren an cholinerge Nervenendigungen gebunden und aufgenommen. Es degradiert innerhalb der Nervenendigung ein Membranprotein (SNAP-25), welches für die Freisetzung von Acetylcholin an der Synapse notwendig ist (Abbildung 1). Dies führt zu einer lokalen Paralyse. Es gibt mittlerweile auch Hinweise auf eine direkte Wirkung auf sensorische Reizleitung (Schmerzwahrnehmung). Die Wirkung hält beim (quergestreiften) Skelettmuskel etwa drei Monate an. BoNT-A findet auch bei der intravesikalen lokalen Therapie der neurogenen Blasenhyperaktivität zunehmend seine Anwendung. Glatte Muskulatur und die cholinerge Aktivierung der Schweissdrüsen werden sechs bis neun Monate blockiert. Nach dieser Periode nimmt die betroffene Synapse ihre Aktivität wieder auf. Die Behandlung kann beliebig oft wiederholt werden.
Das klinische Management von Patienten/ innen mit Spastizität erfordert stets einen multidisziplinären therapeutischen Ansatz, innerhalb dem neben der BoNT-A-Anwendung auch physiotherapeutische, orthetische und chirurgische Massnahmen sowie intrathekale Baclofengabe und der Einsatz systemischer antispastischer Medikamente erwogen werden sollten und bei dem die Kompatibilität des BoNT-A mit anderen applizierten Medikamenten abgesichert ist.
Eine Therapie mit BoNT-A sollte nur von Ärzten/innen mit entsprechender fachlicher Ausbildung, Erfahrung und Ausrüstung (EMG oder /und ultraschallgestützter Injektionstechnik) durchgeführt und bei weiterhin gegebener Indikation wiederholt werden.
Vor der Anwendung von BoNT-A stellt der behandelnde Arzt/Ärztin sicher, dass konsequent ein anschliessendes und adäquates Rehabilitationsmanagement erfolgt, z.B. krankengymnastische Übungen und/oder der Einsatz von Redressionsmassnahmen.
Vor Durchführung der Therapie sind Patienten/innen und gegebenenfalls Bezugspersonen genau zu informieren. Eine Übereinkunft in der Festlegung der Therapieziele sollte erreicht werden. Für nicht entscheidungsfähige Patienten/innen gelten die gesetzlichen Grundlagen.
Die Auswahl von Patienten/innen für die Behandlung mit BoNT-A sollte bestimmt werden durch (i) das Verteilungsmuster der Spastizität, (ii) die dynamische spastische Komponente, (iii) eindeutig definierte therapeutische oder pflegerische Zielsetzung, (iv) die Kontextfaktoren (gemäss ICF).
BoNT-A ist bei fokalen Problemen im Zusammenhang mit schwerer Spastizität einer systemischen Therapie in der Regel eindeutig überlegen und daher einer oralen Medikation vorzuziehen. BoNT wird gegenwärtig als BoNT-A in Form von Botox (Allergan) und Dysport (Ipsen) sowie Xeomin (Merz) und ferner als BoNT-B in Form von NeuroBloc (Elan) auf dem Markt angeboten. Die erwähnten Präparate unterscheiden sich voneinander, auch bezüglich der Einheitendefinition. Ein genau nachgewiesenes Dosisverhältnis ist nicht etabliert.